Samstag, 9. Januar 2010

Der Geist der alten Thailehrerin (1)

Aus gegebenem Anlaß möchte ich nochmal erwähnen, daß ich hier LESESTÜCKE veröffentliche. Es ist also kein Alltagsblog über das pralle Thaileben wie ihn Ben in einer wunderbar authentischen Weise betreibt. So kann es passieren, daß manche Beiträge mal ein wenig länger geraten. Dennoch greife ich Bens Hinweis gerne auf und versuche Pausen einzubauen. Fangen wir heute mit der ersten Fortsetzungsgeschichte an. (Alle Geschichten (c)Paul Martini, Jan. 2007)


Der Geist der alten Thailehrerin

Teil 1, Der Tamarindenbaum

Der Tamarindenbaum war gewiß schon über 100 Jahre alt. Seinen Stamm konnte ein erwachsener Mann nicht mehr umfassen, und in der Höhe maß er stattliche 20 Meter, womit er sämtliche Palmen in der Nachbarschaft ohne Mühe überragte. Sein gewaltiger Stamm begann sich früh zu teilen und starke, fast waagrecht verlaufende Äste mit glatter Rinde trugen spielerisch das schwere buschige Blätterwerk, das im Zenit eine prächtig gerundete grüne Kuppel bildete. Wenn die milde Morgensonne schräg durch die Zweige stach und die durchziehenden sanften Windchen an den Blattstengeln zipfelten, dann sah es aus, als würden die paarig an ihren Stengeln zitternden Blätter miteinander wispern.

Viele Sommer und viele Trockenzeiten hatte der alte Baum schon erlebt. Viele Stürme und peitschenden Regen. Manches rasende Buschfeuer war unter seinen ausladenden Ästen, die wie übergroße Fittiche über dem wilden, nach Licht gierenden Akaziengesträuch hingen, vorbeigezogen, und selbst marodierende Ziegenherden, die sich bisweilen an seinem niedrig hängenden Blattwerk labten, waren für ihn doch immer nur zeitweilige Besucher, eher, Nachbarn, denen er mit generöser Größe gerne gab, was er entbehren konnte.

Der alte Baum hatte viele Gäste. Auf den unteren starken Stammesästen ruhten gelegentlich fette Elstern und langschwänzige Fasane aus, die den frischen Schatten genossen und die Gelegenheit wahrnahmen, ein wenig Federputz zu betreiben, und durch den weitflüchtigen Mittelteil hüpften zuweilen rotköpfige Haubenhäher, die anderwärts nisteten. Im höher liegenden Blättergewirr seiner großen Kuppel spritzten quicklebendige Singvögel über die Zweige, verweilten kurz, schauten pickend unter die Blätter, drehten die kleinen Köpfe und flogen zwitschernd wieder davon. Geckos und kleine Echsen kamen natürlich auch zu Besuch und selbstverständlich die „Buak“, die Holz fressenden Ameisen, die ständig auf der Suche nach abgestorbenen alten Astteilen waren und sich durch morsche Rindenstücke wühlten bis sie abplatzten. Der alte Baum hatte viele Besucher, aber keine Bewohner.

Vor ein paar Jahren nistete sich der Geist einer alten Thailehrerin auf einem starken oberen Ast ein, aber auch er verblieb nur zeitweilig, mal verschwand er wortlos und blieb lange weg, dann kam er wieder und saß schweigsam und starr auf dem Ast als sei er in Bronze gegossen wie ein prähistorisches Reptil und weinte sein stilles tränenloses Trauerweinen, das nie einen Anfang und ein Ende hatte. Der Geist war ein grämlicher Kummerkloß, freudlos und scheu. Er liebte die Dunkelheit und hatte keine Freunde. Während des Vollmondes verkroch er sich unter eine schützende Astgabelung und nur der Wind hörte dann sein verstecktes Schluchzen.

Der Geist der alten Thailehrerin (2)

Der Geist der alten Thailehrerin (3)

Der Geist der alten Thailehrerin (4)

Der Geist der alten Thailehrerin (5)

Der Geist der alten Thailehrerin (6)

Der Geist der alten Thailehrerin (7)

Der Geist der alten Thailehrerin (8)

Der Geist der alten Thailehrerin (9)

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