Montag, 25. Januar 2010

Der Geist der alten Thailehrerin (4)

Teil 4, Nui

Das junge Thaimädchen Nui war erst 6 Jahre alt und lebte in einem ärmlichen Hüttenviertel vor einer nicht so großen Thaistadt, wo über die steinigen Schotterwege des Dorfes schwarzgrüne Abwasserrinnsale ihre Bahnen zogen, und alle Kinder barfuß mit zerbrochenem Plastikgeschirr spielten, neben halbtot gefahrenen Hunden, die ausnahmslos die Räude hatten.

Der Vater des Mädchens war eine ausgemergelte Männergestalt und schon früh gealtert. Er hielt sich mit dem Sammeln von Plastikabfällen und Bierglasflaschen über Wasser und verdingte sich zeitweilig auch schon mal als Gelegenheitsmaurer. Abends saß er mit den Männern aus der Nachbarschaft in einem Lattenunterstand vor einem laufenden Fernsehgerät, das aber keiner beachtete, und trank Lao Khao mit viel Sodawasser und wenn er betrunken nach Hause kam und seine Frau von ihm Geld für die Kinder verlangte, schlug er sie bis sie verstummte. Dann aß er noch den von seiner Frau bereitgestellten Teller Reis und legte sich grunzend schlafen, nicht ohne vorher noch über seine wimmernde Frau hergefallen zu sein.

Die Mutter von Nui verkaufte Nudelsuppen für 15 Baht an die Dorfbewohner und schrumpelige Bratfischchen, die sie aus einem nahen Klong gefischt hatte, und nebenher köchelte sie Holzkohle in einem eigenen kleinen Erdmeiler am Bahndamm, aus dem zeitweise würzige Räucherschwaden über die Wege waberten.

Sie hatte zwei Kinder zur Welt gebracht, Nui und Dig, und an ihr hing die Hauptlast der Versorgung der Kleinen, da der Vater das Geld, das er verdiente, auch selber ausgab, zumeist mit Schnaps und Bier und gelegentlich sogar mit fremden Frauen, aber darüber schwieg sie.

Nui war ein lebendiges Mädchen mit einem gerade gewachsenen, wohlgestalteten Körper und einem freundlichen offenen Gesicht. Ihre langen zotteligen Haare, die ihr spielerisch um die schmalen Schultern wehten, verliehen ihr einen frühen Charme von Liebreiz und Grazie. Die kleinen Bengels der Siedlung mochten sie und liefen ihr hinterher, wenn sie aus dem Kindergarten nach Hause kam, aber die Erwachsenen machten nicht viel Aufhebens von ihrer kindlichen Schönheit.

Umso entsetzter waren alle über ihren plötzlichen Tod. Nui lief gerade einer ausgebüchsten Ziege hinterher, die vor einem heranbrausenden Zug davon gesprungen war. Hunderte Male schon war Nui über die holperigen Gleise gehüpft. Ja, manchmal sogar trieben sie und ihre Freunde wagemutige Spielchen vor den herannahenden Zügen. Doch diesmal stolperte sie sehr unglücklich auf den gerölligen, losen Steinen des Bahndamms und knickte mit dem Fuß um. Sie erschrak zutiefst über diesen plötzlichen Stich in ihrem Gelenk, denn einen solchen Schmerz hatte sie noch nie erlebt, und für einen Moment vergaß sie alles um sie herum, aber es war genau dieser eine Moment des Innehaltens, der zu lange dauerte, um noch aufspringen und davonlaufen zu können. Sie blickte hoch und sah dieses heranschnaubende Metallungetüm auf sie zu kommen, das nun auch noch gräßliche Pfeiftöne ausstieß. Starr vor Schreck und Angst zog sich ihr Blut aus den Gliedern zurück, da erfasste sie auch schon das Rammschutzgitter der Lok und wirbelte sie wie eine willenlose Stoffpuppe über das unebene Steinbett. Wie von Ferne hörte sie noch die martialisch kreischenden Bremsen der von dem Lokführer eilig eingeleiteten Vollbremsung, doch dann schlug ihr Kopf gegen etwas Hartes, was ihn nach hinten wegknickte, und mit einem unhörbaren leichten Knacken in ihrem Genick hörte alles Fühlen auf.

Ihr Geist war zur Stelle und küsste sie zum Abschied. Er war nicht froh. Auch Geister sind traurig, wenn kleine Menschen sterben. Aber Geister greifen in ein menschliches Leben nicht ein, sie sind weder Förderer noch Bewahrer, sie sind stille, unerkannte Begleiter, aber keine Schicksalsgestalter. Sein Leben muß der jeweilige Mensch alleine bewältigen, muß die Verantwortung dafür selber tragen und kann sie nicht bei den Geistern abladen. Für die Geister spielt der einzelne menschliche Tod keine Rolle. Sie waren schon in so vielen menschlichen Körpern, haben schon so viele menschliche Leben begleitet, zuviel Leid und Tragödien miterlebt, zuviel Glück und wundersame Fügungen schon gesehen. Darüber wundert sich kein Geist mehr.

Donnerstag, 14. Januar 2010

Der Geist der alten Thailehrerin (3)

Teil 3, Der Geist der alten Thailehrerin

Der Geist der alten Thailehrerin saß nun im Geäst der mächtigen Tamarinde und wartete auf seine Wiedergeburt. Er wollte nicht noch einmal Schulmeister werden, denn dies hatte er schon das letzte Mal als Bestrafung seines vorgehenden Lebens empfunden. Da war er Verkehrspolizist auf einer sehr belebten Bangkoker Straßenkreuzung gewesen. Seine Vorgesetzten forderten ständig mehr Geld von ihm, das er den Autofahrern für nichtigste Vergehen abnehmen sollte, aber er konnte natürlich niemals mit den guten Ergebnissen seiner Kollegen mithalten, die an Straßen mit hohem Farangaufkommen Dienst taten. Auf seiner Kreuzung kamen doch nur sparsame Familienväter, Krankenschwestern und kleine Gemüsebauern aus dem Umland vorbei. Da konnte er keine fünffachen oder zehnfachen Strafen kassieren wie von den fetten Farangs, die schon wegen der mangelnden Sprachkenntnisse leicht auszunehmen waren. So wurde er auch nie befördert und blieb sein Leben lang einfacher Streifenpolizist.

Der Geist seufzte schwer, aber er unterbrach sein mahlendes Weinen nicht. Er hatte keine Lust mehr auf eine neuerliche Wiedergeburt. Es war doch immer die gleiche Leier. Man kommt mit nichts auf die Welt als mit einem blanken Popo und dann beginnt ein lebenslanger Kampf darum, wie man anderen das Geld abnimmt und davon auch möglichst noch viel, damit man sich Dinge kauft, die man gar nicht braucht, wovon man sich aber einflüstern läßt, dass man sie brauchen würde, und wenn man stirbt, bleibt einem ja doch nichts weiter übrig als eben der gleiche nackte Popo. Wofür die ganze Aufregung? Am liebsten würde er hier bis in alle Ewigkeit sitzen bleiben. Aber das kam ihm noch viel grauenvoller, viel auswegloser vor. Die Menschen haben Angst vor dem Tod, aber die Geister haben Angst vor der Ewigkeit. Es gibt kein Ende. Sie können nicht sterben. Schrecklich! Und dennoch ist es ihr Los. Zwar müssen sie hin und wieder in neue Körper schlüpfen, aber schlussendlich bleiben sie unvergänglich. Im Gegensatz zu den Menschen können sie sich an alle ihre Leben erinnern, aber weil sie immer wieder in neue Menschen fahren, können sie von ihrem Wissen und ihren Lernerfahrungen nichts davon hinüber retten. Der Mensch muß immer wieder neu anfangen, der Geist aber braucht es nicht.

Der Geist der alten Thailehrerin stöhnte leise. Er war alles so furchtbar leid.
In seiner hilflosen Suche hatte er vor einiger Zeit den Geist eines alten Thaimönchs getroffen, der noch immer in dem mumifizierten Körper hinter einer Glasvitrine in einem Tempel wohnte. Er war ein neckischer Kerl. Er wollte einfach nicht ausziehen und in der Geisterwelt herumwandern, sondern blieb im Wat und machte sich einen Spaß daraus, die Besucher, die in den abendlichen Andachtsstunden des aufgebahrten Toten gedachten, zu verwirren. Mal steckte er die Blumen mit den Köpfen nach unten in die Vase, mal schüttete er Chilipulver in den herumgereichten Tee und mal schlüpfte er hinter die Gesichter der Angehörigen, die vor dem Kühlsarg und dem Bild des Toten zu einem letzten Schnappschuß aufmarschiert waren, und ließ sie in einem grässlichen Flaschengrün erstrahlen. Der Mönchsgeist bebte vor spitzbübischem Entzücken, wenn die derart Gefoppten mit Schaudern aufschrieen und den unruhevollen Geist des unlängst Verblichenen der Taten bezichtigten, dabei war dieser schon lange von jenem ausgefahren und stromerte über die weiten Geisterbahnen, endlich seine Freiheit genießend, denn jeder Geist ist froh, wenn er das alte Martergerippe so schnell wie möglich verlassen kann.

Der Geist der alten Thailehrerin fand an solcherlei Spukereien keinen Gefallen. Er wollte seine Ruhe haben, auch wenn es eine ereignislose, eine Totenruhe war. Er hatte dem Mönchsgeist sein Sündenregister aus seinen Lebzeiten vorgehalten, aber der kecke Kerl spuckte nur darauf. Das waren doch wirklich olle Kamellen, fand er, die keinen mehr interessierten. Klar, war es kein Ausweis seiner Frömmigkeit, wenn er sich des nachts in die Kluft eines Tagelöhners zwängte, sich eine Strickmütze mit Augenschlitzen ins Gesicht zog, damit man seinen kahlgeschorenen Schädel nicht bemerkte, und sich mit ein paar Spendengeldern aus dem Wat schlich, um sie in einem Puff in der Stadt zu verjubeln. Die Mädchen hielten ihn für einen arbeitsamen Familienvater aus einer Blechbarackensiedlung am Stadtrand, der auf Abwechslung aus war, doch ihm kam es sogar noch recht genial vor, wie er auf solch originelle Weise für einen selbstinszenierten Rücklauf der gespendeten Gelder sorgte. Dies ging lange Jahre gut und nur einmal wäre sein kleines Geheimnis fast herausgekommen, als er in der Bar des Puffs einem Mönchsbruder begegnete, von dem er sich im letzten Moment noch abwenden konnte.

Der Geist der alten Thailehrerin wurde schnell gewahr, dass der Mönchsgeist nie ein guter Freund für sie werden wird. Angewidert saß er im Geäst des Tamarindenbaums und schaute auf das übermütige Treiben des Mönchsgeistes, der immer zu Späßen und Schabernack aufgelegt war und nichts und niemanden ernst nahm. Doch ohne Freunde war selbst ein Geisterleben nur die Hälfte wert. Und gute Freunde zumal, mit denen man zusammensitzen und die Zeit verplappern konnte oder vielleicht sogar Ausflüge in den Geisterorkus machen konnte, waren noch viel schwerer zu finden. So saß er da und konnte nicht aufhören, sein Schicksal zu beweinen, und schon dachte er, dass er bis in alle Unendlichkeit auf diesen Ästen sitzen müsse, dumpf brütend und wie in Betäubung schmorend, alle Tage freundlos und ohne erhellende Lichtblicke. Doch dann kam eines Tages der Geist von Nui, einem kleinen Thaimädchen vorbei, der ihn mitzog und zu gemeinsamen Spritztouren ermunterte.

Montag, 11. Januar 2010

Der Geist der alten Thailehrerin (2)

Teil 2, Die alte Thailehrerin

Die alte Thailehrerin lebte in einem ruhigen kleinen Ort inmitten der Thaiprovinz und ging jeden Morgen voller Missmut und Widerwillen in eine staatliche Schule. Die kleinen fröhlichen Knirpse in ihrer Klasse waren für sie im Laufe der Zeit zu einem zuchtlosen Haufen Ekel geworden, verspielt, unerzogen und lernfaul. Manche kamen barfuß zur Schule oder mit zerschlissenen Schuhen, viele hatten schwarze Fingernägel, waren ungewaschen und rochen schlecht, und besonders die Mädchen hatten die langen Haare voller Läuse. Die meisten waren ungesund und einseitig ernährt, mieden Obst und Gemüse, aßen mit Behagen Kurzgebratenes und jede Menge Süßigkeiten mit künstlichen Aromastoffen und waren bei den geringsten Temperaturschwankungen verschnupft oder hatten Husten.

Die alte Thailehrerin hatte 45 Kinder zu unterrichten, aber um Unterricht ging es schon lange nicht mehr. Ein Gutteil der Zeit verging mit Ermahnungen und Disziplinierungen, um den allgegenwärtigen Geräuschpegel zu dämpfen, damit sie auch in den hinteren Reihen noch gehört werden konnte. Sie war streng. Wer störte, musste sich nach vorne in die erste Reihe setzen, damit er unter ihrer direkten Beobachtung war. Aber sie war nicht streng genug. Das merkte sie bald und begann zu verzweifeln, und das war der Anfang ihrer langen Reise in ihre innere Traurigkeit. Von nun an ging sie in die Schule als würde sie auf Schienen laufen wie eine ferngesteuerte Traisine. Mechanisch und lustlos vollzog sie den Unterricht.

Ihre liebste Schulstunde war morgens zwischen 8 und 9 Uhr, wenn alle Kinder vor der aufgezogenen Thaifahne in Reih und Glied auf dem Schulhof standen und die Nationalhymne absangen, und wenn anschließend die Sünden von ein paar hartgesottenen Taugenichtsen vorgelesen wurden. Es war noch angenehm kühl, und sie konnte seitwärts stehen und ihren Gedanken nachhängen, bevor sie mit ihren Früchtchen in den Klassenraum abmarschierte, der im Laufe des Tages mehr und mehr zu einem wahren Bratloch wurde. Die Kinder schwitzten erbärmlich in ihren engen, festen Uniformhemden und es roch ranzig und nach verschwitzten Füßen wie in einem speckigen Turnsaal. Zwar drehte ein lächerlich kleiner Ventilator an der Decke seine tapferen Runden, doch in den Sitzreihen der Kinder kam keine Linderung an.

Als die alte Thailehrerin pensioniert wurde, kam es ihr vor als hätte irgendjemand der Traisine den Strom abgestellt. Sie musste morgens nicht mehr in die Schule und fühlte sich das erste Mal in ihrem Leben wirklich frei. Sie genoß ihr Leben. Kaufte neue Blumen für ihr Haus, übernahm einen Hund aus der Nachbarschaft und auch eine Katze, räumte die Möbel um und ließ sich eine neue Küche bauen, damit sie nun endlich selber kochen konnte. Aber das freie Leben hatte auch ihre Tücken und das merkte sie bald. Ihre Tage plätscherten dahin, und ohne Arbeit oder Aufgaben kam es ihr ziemlich langweilig vor. Sie ging aus und traf sich mit Freundinnen, was aber zunehmend dazu führte, dass sie zusammen beim Kartenspiel saßen, was zwar kurzweilig, aber mitunter auch verlustreich war. So kam sie manchmal deprimierter nach Hause zurück als sie von dort fort gegangen war. Häufiger ging sie fortan in den Tempel und spendete den Mönchen Essen und Geld, doch sonst zog sie sich immer mehr zurück und traf sich auch mit ihren Freundinnen nur noch selten. Obwohl sie körperlich noch gut beweglich war und auch noch keine Alterszipperlein hatte, ging sie kaum mehr aus dem Haus. Ihr Moped hatte sie schon lange verkauft und zu Fuß war es ihr zu heiß. Sie wurde launisch und verschroben, maßregelte ihre Zugehfrau, die ihr das Haus sauber hielt und die Tiere fütterte, und beschimpfte am Telefon die Wasserwerke und die Stadtverwaltung in rüdem Ton aus nichtigen Anlässen. Mit 70 Jahren guckte sie nach vorne, und sie erschrak, denn was sie sah, sah nicht rosig aus. Sie sah den Tod auf sich zukommen und sie hatte Angst davor. Das war entsetzlich. Die Jahre vergingen, aber es gelang ihr nicht, ihre Angst zu überwinden.

Als der Tod sie überraschte, wollte sie gerade in ihrer Küche nach einem Messer greifen, um eine Zwiebel zu schälen, aber es gelang ihr nicht mehr. Sie stand vor dem Messer und sah es liegen, aber ihr rechter Arm und ihre Hand verweigerten den Greifbefehl. Plötzlich sah sie 5, nein 10, ach je, ein ganzes Messermeer vor ihr liegen, dann knickten ihr die Beine weg. Sie sackte zusammen und schlug mit dem Kopf, in dem ein kleines blutführendes Gefäß geplatzt war, auf die blanken Küchenfliesen. Es wurde dunkel um sie herum und sie empfand nichts als einen wohligen Frieden und gab sich ihm hin. Es war 8.25 Uhr - ihre liebste Schulstunde - und die Kinder standen wie jeden Tag in der nahen Schule vor der Thaifahne, als ihre Atmung aussetzte und ihr Geist sie abholen kam.

Samstag, 9. Januar 2010

Der Geist der alten Thailehrerin (1)

Aus gegebenem Anlaß möchte ich nochmal erwähnen, daß ich hier LESESTÜCKE veröffentliche. Es ist also kein Alltagsblog über das pralle Thaileben wie ihn Ben in einer wunderbar authentischen Weise betreibt. So kann es passieren, daß manche Beiträge mal ein wenig länger geraten. Dennoch greife ich Bens Hinweis gerne auf und versuche Pausen einzubauen. Fangen wir heute mit der ersten Fortsetzungsgeschichte an. (Alle Geschichten (c)Paul Martini, Jan. 2007)


Der Geist der alten Thailehrerin

Teil 1, Der Tamarindenbaum

Der Tamarindenbaum war gewiß schon über 100 Jahre alt. Seinen Stamm konnte ein erwachsener Mann nicht mehr umfassen, und in der Höhe maß er stattliche 20 Meter, womit er sämtliche Palmen in der Nachbarschaft ohne Mühe überragte. Sein gewaltiger Stamm begann sich früh zu teilen und starke, fast waagrecht verlaufende Äste mit glatter Rinde trugen spielerisch das schwere buschige Blätterwerk, das im Zenit eine prächtig gerundete grüne Kuppel bildete. Wenn die milde Morgensonne schräg durch die Zweige stach und die durchziehenden sanften Windchen an den Blattstengeln zipfelten, dann sah es aus, als würden die paarig an ihren Stengeln zitternden Blätter miteinander wispern.

Viele Sommer und viele Trockenzeiten hatte der alte Baum schon erlebt. Viele Stürme und peitschenden Regen. Manches rasende Buschfeuer war unter seinen ausladenden Ästen, die wie übergroße Fittiche über dem wilden, nach Licht gierenden Akaziengesträuch hingen, vorbeigezogen, und selbst marodierende Ziegenherden, die sich bisweilen an seinem niedrig hängenden Blattwerk labten, waren für ihn doch immer nur zeitweilige Besucher, eher, Nachbarn, denen er mit generöser Größe gerne gab, was er entbehren konnte.

Der alte Baum hatte viele Gäste. Auf den unteren starken Stammesästen ruhten gelegentlich fette Elstern und langschwänzige Fasane aus, die den frischen Schatten genossen und die Gelegenheit wahrnahmen, ein wenig Federputz zu betreiben, und durch den weitflüchtigen Mittelteil hüpften zuweilen rotköpfige Haubenhäher, die anderwärts nisteten. Im höher liegenden Blättergewirr seiner großen Kuppel spritzten quicklebendige Singvögel über die Zweige, verweilten kurz, schauten pickend unter die Blätter, drehten die kleinen Köpfe und flogen zwitschernd wieder davon. Geckos und kleine Echsen kamen natürlich auch zu Besuch und selbstverständlich die „Buak“, die Holz fressenden Ameisen, die ständig auf der Suche nach abgestorbenen alten Astteilen waren und sich durch morsche Rindenstücke wühlten bis sie abplatzten. Der alte Baum hatte viele Besucher, aber keine Bewohner.

Vor ein paar Jahren nistete sich der Geist einer alten Thailehrerin auf einem starken oberen Ast ein, aber auch er verblieb nur zeitweilig, mal verschwand er wortlos und blieb lange weg, dann kam er wieder und saß schweigsam und starr auf dem Ast als sei er in Bronze gegossen wie ein prähistorisches Reptil und weinte sein stilles tränenloses Trauerweinen, das nie einen Anfang und ein Ende hatte. Der Geist war ein grämlicher Kummerkloß, freudlos und scheu. Er liebte die Dunkelheit und hatte keine Freunde. Während des Vollmondes verkroch er sich unter eine schützende Astgabelung und nur der Wind hörte dann sein verstecktes Schluchzen.

Der Geist der alten Thailehrerin (2)

Der Geist der alten Thailehrerin (3)

Der Geist der alten Thailehrerin (4)

Der Geist der alten Thailehrerin (5)

Der Geist der alten Thailehrerin (6)

Der Geist der alten Thailehrerin (7)

Der Geist der alten Thailehrerin (8)

Der Geist der alten Thailehrerin (9)

Freitag, 8. Januar 2010

Sawadii bi mai, Freunde!

6. 1. 10

Liebe Freunde, habt Dank für die Weihnachts- und Neujahrsgrüße. Möge auch euch ein spannendes und lebendiges neues Jahr bei guter Gesundheit beschieden sein!

Ja, ihr habt Recht, Weihnachten ist ein Fest, das ich gemeinhin gerne übergehe. Zumal es in hiesigen Breiten mit der Weihnachtsfeierlichkeit ohnehin nicht weit her ist. Weihnachtsgefühle bei 32 Grad im Schatten – wer hat die schon? Bekäme ich nicht gelegentlich Mails mit guten Wünschen, würde dieses Ereignis sehr unbeachtet an uns vorübergehen. Die Thais haben mit Weihnachten sowieso nichts am Hut. Zwar wird es ihnen übergestülpt, doch können sie nichts damit anfangen. Im Tesco rieseln Behaglichkeit verbreitende Weihnachtslieder auf die Besucher herab, und davor stolpert ein verkleideter Weihnachtsmann über seine eigene Garderobe und erschreckt die Kinder. Doch was das zu bedeuten hat, das sagt ihnen keiner. Aber solange es etwas zu feiern gibt, ist den Thais jedes Spektakel recht. Wozu braucht man zu wissen, in welcher Tradition ein Fest steht?

Womit wir bei den saisonal gebräuchlichen Verpflegungsveranstaltungen des ausgeklungenen Dezembers wären. Los gings mit meinem Geburtstag.

Ich hatte mit meiner Frau verabredet, daß wir diesmal im Kreise unserer fortgesetzt auf Selbsterweiterung bedachten Thaisippschaft ein übersichtliches Gastmahl für alle veranstalten. Doch wie immer traten im Vorfeld jene scheinbar unausrottbaren, archaischen Urängste zutage, die Feiergemeinschaft könne von gräßlichen Hungeranfällen befallen werden, weshalb vorsichtshalber in Überfülle eingekauft wurde, was auf den lokalen Märkten und in dem hiesigen Meer zu kriegen war. Der Tisch bäumte sich von all den vielen Köstlichkeiten: frittierte Hühnerbeine, Ente, Fischfrikadellen, Knoblauchkrabben und Fische, gedünstet und gebraten, sowie scharfe Chilibratwürste und die allseits beliebten Nürnberger usw. Es war wie immer viel zu viel, doch den Protest dagegen habe ich schon lange eingestellt. Genügsamkeit in Essensdingen ist einem Thai nicht beizubringen. Dies käme einem ungeheuerlichen Sanukdefätismus gleich! Nicht vorstellbar.

So rückte ich zur abendlichen Feierstunde frisch geduscht mit einem Kasten Singha an, den ich gleich in einer Eisbox verschwinden ließ. Ein Kasten mag euch wenig vorkommen, doch es hieß, daß unsere lieben Mitthais ausschließlich dem Leo zugeneigt seien, welches ich ebenfalls sponserte. Doch am Ende des Abends waren alle 12 Flaschen Singha auf wundersame Weise leer. Achja, wie können sie uns doch immer wieder auf nette Weise überraschen, nichtwahr?

Alles in allem war es aber schön, mit den Thais zu feiern. Ausser einem besuchsweise hier weilenden Freund aus Deutschland, war es eine reine Thaifeier in dem kleinen Straßenrestaurant der Thaifamilie, wobei der normale Geschäftsbetrieb der einzelnen Unternehmenszweige nebenher weiterlief: Die Li verkaufte Nudelsuppe, die Noi verkaufte Bratreis und die Wi verkaufte Fruchtsaft mit Schreddereis, nur der Lung (Onkel) hatte seine sieben oder acht zum Verkauf stehenden Gebrauchtwagen abgeschlossen und sich zum Schmause begeben. Zu vorgerückter Stunde, gingen die Lichter aus und jemand brachte die unvermeidliche Geburtstagstorte, deren Kerzen ich ausblasen mußte. Alle klatschten und sangen "Happy Birthday" und der Lung drückte mich und wünschte mir Reichtum und Wohlstand. Na, nun kann eigentlich nix mehr schief gehen....

Zu Heiligabend bekam ich Besuch von einem Kumpel aus dem Süden. Er wohnt in Lang Suan zwischen Chumpon und Suratthani und hat die Strecke von 350 km in einem Tag bewältigt: MIT DEM FAHRRAD!!!!! Völlig erschöpft begehrte er einen wärmestrahlenden Weihnachtsengel für die seinerzeit kühle Heilige Nacht, welcher auch versiert in himmlischen Massageanwendungen sei. So begaben wir uns im hiesigen Barviertel auf die Suche, wo wir tatsächlich auch jede Menge festlich gestimmte Christbaumperlen in zipfelbemützen Galatrachten vorfanden, denen jedoch allen eines zueigen war: außen glänzend, doch innen ganz schön hohl.

An Silvester probte die Thaifamilie eine zackige Karaokeparty, von der ich mit schmerzenden und tauben Innenohren zurückkam. Daß versoffenes, schiefes Gröhlen nichts mit Gesang zu tun hat, kann man einem Thai aber nicht klarmachen. Im Gegenteil! Das ist Thaisanuk in höchster Potenz. Naja... Viel guter Wille vorausgesetzt, könnte man es allenfalls für eine unkoordiniert abgehende Extrem-Flatulenz aus der falschen Körperöffnung halten. Die verwechseln hier sowieso gerne Potenz und Potential. Aber wenn man von beidem so wenig vorzuweisen hat, dann muß man das auch so genau nicht nehmen.

Am Neujahrstag fuhren wir nach Thapsakae. Die Oma hatte Geburtstag und es galt, ihr wie jedes Jahr unsere Aufwartung zu machen. Diesmal ohne große Party. Doch Potzblitz! Kaum angekommen, fummelten ein paar Thaibuben auch schon wieder an einem eiligst herbeigeschafften Karaokecomputer herum. NEIN, nicht schon wieder!!

Doch es half nichts. Und während die Thais abwechselnd mal die Bässe und mal die Höhen der sentimentalen Schnulzen um die windschiefen Holzhäuschen jagten, schlenderte ich über den Neujahrsrummel von Thapsakae, wo es allerlei absunderliche Sachen zu entdecken gab. Als ich wieder zurückkam, waren die Boxen auf einen Pickup verladen und die Thais dösten in Hängematten oder lümmelten schnatternd auf Holzpodesten. Nanu, wie nannte sich dieses neue Spiel? Keine Karaoke mehr? Richtig! Keiner wollte singen. Wie bitte…? Sagt selbst, ist dieses Land nicht immer wieder "amazing"?

Die tollen Jahresendtage sind nun auch vorbei. Sie waren für uns Hua Hin-Bewohner entsetzlich. Halb Bangkok war bei uns zu Gast. Man kam nicht hinein und nicht heraus. Wir rösteten in endlosen Blechkolonnen, die sich kaum von der Stelle bewegten. Unbekümmerte Linksparker und sorgenfreie Rechtsabbieger scherten sich wenig um den hinter ihnen auflaufenden Rückstau und machten aus dem ohnehin schon hirnlosen Verkehrschaos eine unrettbare Stillstandsvereinigung von versammeltem Blech.

Rechtzeitig zu dem alljährlichen Massenansturm am Jahresende hat unsere tüchtige Stadtverwaltung in einer bemerkenswerten Wallung von Regelungsvernunft eine sensationelle Verkehrsmaßnahme umgesetzt und an den beiden Hauptkreuzungen zwei Abbiegeampeln und neue Abbiegespuren eingerichtet. Doch leider, leider hat sie dabei die gewitzte Cleverness ihrer verkehrsartistisch vielseitig talentierten Thaiuntertanen außer Acht gelassen, die einer roten Ampel zwar Kompetenz zubilligen, doch spukhafte Malereien auf dem Asphalt weniger als Verkehrslenkung denn als moderne Kunst begreifen, und die hat fahrtechnisch natürlich keine Relevanz. Was Jahre lang gut lief, kann man doch nicht jählings über Nacht ändern! Das wäre ja noch mal schöner!

Seit einiger Zeit gibt es in Hua Hin eine neue thaitypische Touristenattraktion, den Plearn Wan Komplex. Er befindet sich zwischen der Soi 38 und 40. Schon von außen her macht die gesamte Gebäudekonstruktion mit ihren angepappten Bretterwänden und vernagelten rostigen Wellblechversatzstücken einen etwas verwitterten und dekadenten Eindruck. Doch das ist gewollt! Denn Plearn Wan soll so eine Art von antikem Erlebnismuseum im Retro-Look sein, wobei die Betonung sanukadäquat eher auf dem ersten Wortteil liegt. Beim Bummel durch die traditionellen Kleinläden soll sich der Besucher wie auf einer zeitgeschichtlichen Reise durch das historische Thailand fühlen. Doch selbstverständlich ohne auf neuzeitliche Annehmlichkeiten verzichten zu müssen wie Eiscreme aus der Kühltruhe und Cola in riesigen Halbliterbechern. Schon vor dem Eingang steht eine aufgearbeitete alte Fahrrad-Rikscha mit Korbstuhlbeiwagen(!), und ein blauweiß bemaltes Tuk-Tuk kündet von den „Memories of classic romance“. (Was könnte damit nur gemeint sein?)

In den bretterverbrämten Shops sind alte Tonbandgeräte und Fotoapparate ausgestellt, vorsintflutliche Trichtermegafone, sowie fürchterlich unbequeme Kinderwagen aus Holz, die eher an Kohlekästen erinnern. Die nostalgisch wirkenden Verkaufsbuden kontrastieren merklich zu dem in den Wandelgängen ausgelegten grünen Kunstrasen aus der Neuzeit, doch dafür sind sämtliche Schilder, Plakate und Beschriftungen in Thai. Auch die überall herumstehenden Plastiktonnen stehen in eigenartigem Gegensatz zu dem antiken Flair der Anlage. Doch aufgepasst! Hier findet die meines Wissens thailandweit einzige real praktizierte Mülltrennungskampagne statt - und die skurrilste zugleich: Unterschieden wird zwischen „trockenen“ und „feuchten“ Abfällen!

Im hinteren Teil der Anlage kann man am Wochenende bei vergangenheitsverklärten Gesangsvorführungen sitzen und alten Schnulzen aus den siebziger Jahren lauschen. Doch anscheinend vermag das aus dem chicen Bangkok heran gereiste Jungvolk an der vergangenen Handwerks- und Gesangskunst nicht so das rechte Interesse zu entwickeln, da es in aufgeregter Selbstverliebtheit einzig damit beschäftigt ist, sich pausenlos und in affigen Posen gegenseitig selber zu fotografieren, womit es ihnen vermutlich auch reichlich gleichgültig ist, daß der Espresso in dem doch ach so postmodernen Thai-Coffeeshop aus einer ganz und gar hochmodernen Kaffeemaschine kommt.

Mir geht es gut, aber die körperlichen Malesten nehmen zu. Es treten Zipperlein an Stellen auf, von denen man gar nicht angenommen hätte, daß sie sich jemals bemerkbar machen würden. Aber das nehme ich hin.

Mit meinem Thaiumfeld komme ich gut zurecht und lebe in Frieden damit. Wir tun uns gegenseitig nicht weh. Weder verspüre ich missionarische noch aufklärerische Regungen und habe große Zuversicht in den praxiserprobten Dilettantismus der Thais, der es zuweilen immer mal schafft, daß ich mein Geknottere einstelle. Jeder hat das Recht auf seine eigene Besessenheit. Wer will denn schon beurteilen, ob nicht auch ich in einer solchen lebe?

Wer nichts hinzulernen will und auf seine Faulheit auch noch stolz ist, kriegt ohnehin früher oder später die Quittung präsentiert. Unterlassen wie Unternehmen bleibt gleichermaßen nicht folgenlos. Das konnte ich im letzten Monat wieder anschaulich und mit einer gewissen inneren Befriedigung beobachten. Nach langen düsteren Jahren auf einer Thai-Schulbank erwachte unser vierzehnjähriger Hausthai endlich aus seinem halbkomatösen Schulschlaf und teilte uns unter Geltendmachung von mancherlei windelweich klingender Schutzbehauptungen seinen Entschluß mit, jene Einrichtung fürderhin zu meiden. Zuvor schon hatte seine verdutzte Mutter einen überraschenden Schwächeanfall erlitten, als sie von seinem Lehrer erfahren mußte, daß der brave Sohn schon seit längerer Zeit so manche Schulstunde außerhalb des Schulgebäudes zu gestalten wußte und beschlossen hatte, seiner Wissenserweiterung mit sportlichen Ballerspielen in den umliegenden Internetshops eine progressive Pause zu gönnen.

So blieb er zu Hause und pflegte sein Phlegma. Nur einmal noch begab er sich in seine alte Schule, als eine bekannte Mopedfirma dort eine Schulparty abhielt. Als erstes stellte er seinen Tagesablauf um. Er kam nachts um 3 Uhr nach Hause, legte sich Schlafen und erwachte erst wieder in den frühen Nachmittagsstunden. Dann begab er sich umgehend auf die Suche nach einer Schale Reis, was ihn derart erschöpfte, daß er sich erneut zu einem Nickerchen hinlegen mußte. Gegen Abend verschwand er grußlos auf einem Moped mit einem Kumpel, und wir sahen ihn erst am nächsten Nachmittag wieder. So ging das viele Tage, und wenn meine Frau nicht ebenso beschwörend wie beruhigend auf mich eingeredet hätte, dann wäre ich wohl explodiert. Inzwischen ist er ausgezogen. Sein Vater hat ihn vor ein paar Tagen abgeholt und ihn in seinem Internetshop auf Koh Phangan angestellt, um dort die Aufsicht zu führen. Ist das nicht wunderbar? Selten gelang es wohl so bruchlos einen Bock zum Gärtner zu machen! Nun kann er alle Tage umsonst all die vielen Games spielen, für die er vorher viel Geld bezahlen mußte!

Menschlich gesehen ist so etwas natürlich eine große Katastrofe, weil er nun noch nicht mal einen Hauptschulabschluß bekommen wird. Dafür ist er zu dumm. Für eine Nachhilfe ist es zu spät. Für eine weitergehende Berufsausbildung ist er zu begriffsstutzig. Für Handlangerarbeiten ist er zu faul. Für ein Hobby ist er zu desinteressiert. Für eine Sportart zu schwerfällig. Jede Form von Bewegung ist ihm zuwider und jede übertragene Aufgabe erledigt er nur schlampig und liederlich. Er findet nichts dabei, tagelang ohne einen einzigen Baht in der Tasche auskommen zu müssen. Ein Reisgericht findet sich doch immer! Außerdem hat er hat doch Freunde, die ihn aushalten und eine Freundin, die ihn beschenkt. Was für ein Leben!

Vom Wetter gibt es eigentlich nur Pläsierliches zu berichten. Der stramme Wind der Weihnachtstage hat sich gelegt und damit auch die Staubbelastung der Luft. Wir sind nicht mehr verschnupft und die Thais husten auch nicht mehr. Im Gegenzug haben die Temperaturen ganz ordentlich aufgeholt, was für die Jahreszeit eigentlich ungewöhnlich ist.

So finden wir unser Thaileben keineswegs zu anstrengend.

In diesem Sinne wünsche ich euch noch einen schönen Restwinter und freue mich, wenn ihr euch auch wieder mal meldet.

Allerbeste Grüße und Sawadii bi mai!