Mittwoch, 30. Dezember 2009

Warum der Papayasalat kein Salat ist




In der weiten nordöstlichen Flachebene unseres Gastlandes, dort, wo zwischen strohigen Zuckerrohrfeldern und störrischen Wasserbüffeln die feinen Künste erlesenen Kochens eine entbehrliche Nebensache sind, und wo es ausreicht, wenn zu ungewürztem Grillfleisch schaler Klebreis gereicht wird, ist die Heimat des legendären „Papaya-pok-pok“. Die Rede ist von Somtam, oder besser bekannt als Papayasalat, wobei die Wortbezeichnung „Salat“ eine nach unseren Vorstellungen arg herbei gedrechselte Gattungsangabe ist. Aber wollen wir ihm im besten Wortsinne einmal soviel zugute halten als es sich um eine Frischemahlzeit mit überwiegend rohen Zutaten handelt.

Denn frisch und knackig sind die meisten Zutaten anfangs ja schon! Da sind zunächst die Papayas selbst, zwar grün und unreif, aber unbestreitbar frisch, daneben Zwiebel, Chilischoten, Tomaten, Bohnen, Knoblauch und frisch gepresste Limetten. Bis hierher könnte selbst ein europäischer Gaumen noch mithalten. Doch nach Hinzufügung von reichlich fermentierter Fischsoße, dieser genialen Universalwürze der thailändischen Küche, sowie einer herzhaften Handvoll Pla Raa (in trübem Salzwasser verfaulte und zerfallene Fischreste) und als Abschlußdreingabe von ein paar glitschigen schwarzen Kanalkrebsen, die zuweilen noch zappelnd zerstoßen werden und darob brenzliche hygienische Gütefragen aufwerfen, mögen uns doch Bedenken kommen, ob diese landestypische „Salatkreation“ der menschlichen Gesundheit gefahrlos zugemutet werden sollte. Und mit Eßgenuß hat das auch nichts zu tun, eher schon mit Kühnheit, vielleicht sogar Tollkühnheit, zumal die aus dem Stampftopf heraufziehenden diabolischen Gärschwaden für die irritierte Nase eine schwer auszuhaltende Belastungsprobe darstellen. Wenn nun auch noch geraspelte Erdnüsse und löffelweise Zucker hinterher geworfen werden, dann hat der Begriff „Salat“ endgültig ausgedient. Vielleicht sollte man behelfsweise von einem blindlings zusammen gewürfelten und chaotisch verwürzten Gemüsecocktail auf markanter Fischbasis reden, so einer Art Thai-Ratatoui nach Isaan-Art.

Um einen solch gewagten Gemüsemischmasch als lukullischen Wonnekitzel zu empfinden, muß man schon ein sehr robust gebauter Thai mit einem wahren Husarenmagen sein, der nach der faden Reissuppe am Morgen endlich mal etwas Kerniges neben seinem Lao Khao stehen haben will. Ich persönlich kann dem brisanten Schmaus nichts abgewinnen, und brächte viel Verständnis dafür auf, wenn unbedarfte Geister ihn für ein Insektenvertreibungsmittel hielten. Doch noch nicht mal dazu taugt er. Die Fliegen lieben ihn.

Nun sollte man nicht das Stänkern anfangen, wenn einen fremdländische Imbisse nicht erquicken, zumal unsere thailändischen Mitmenschen ihrerseits wenig Sympathie empfinden für unsere vielen Essig- oder stark riechenden Käsesorten, die ihnen als barbarische, farangeigene Abscheulichkeiten vorkommen.

So sieht es danach aus, dass außer dieser befremdlichen Rohkostkreation aus der Ödnis des Isaans andere Salatformen in diesem Land keine Zukunft haben. Was schade ist. Zwar reicht man bisweilen rohe Weisskrautblätter, frische Minzekräuter und grüne Stangenbohnen als Beilagen zu einigen fetten Grillgerichten, doch ohne jegliche Dressings!

Köstlich angemachte Salate wie sie zum Beispiel die begnadete Mittelmeerküche kennt, sind in Thailand leider gänzlich unbekannt oder werden viel zu gut meinend in üppigen süßen Cremesoßen ertränkt.

Auch für solch delikate Salatbeigaben wie Weißbrot, Käse und Wein ist dieses Land keine Destination. Das Weißbrot wird schnell steinhart, für den Käse sind die Temperaturen außerhalb des Kühlschranks eine Tortur und der Wein hat nie eine Blume. Es ist zu heiß. Dennoch ist im häuslichen Bereich vieles möglich, sogar ein leckerer Salat mit Ölivenöl. Nur unser dreizehnjähriger Hausthai verweigert als bodenständiger Reisesser beharrlich die Teilnahme an solcherlei gesunder Ernährung. Das Olivenöl würde stinken. Wir werden ihm bei Gelegenheit mal einen betörenden Somtam vorsetzen.

©Paul Martini, 21. 1. 2008

Freitag, 4. Dezember 2009

Der König kommt

Schon beim Frühstück raunte mir die beste aller Ehefrauen bedeutungsvoll zu, daß heute abend der König kommt. Nein, nicht zu uns nach Hause, sondern in seinen "Sorgenfrei-Palast" hier in Hua Hin. Die Nachbarin kam und fragte, ob ich denn ein gelbes Hemd besäße. Nein? Na, dann täte es auch eins in Bonbonrosa. Wie bitte? Aber eine lange Hose müsse ich anziehen. Ich besitze keine Hemden in den nachgefragten Farben, und eine lange Hose empfinde ich bei diesem dampfenden Waschküchenwetter da draußen mit Temperaturen von 35 Grad als eine rechte Qual. Ob der Thaikönig weiß, was ich da möglicherweise für ihn auf mich nehme? (Ich weiß, ich stelle die falschen Fragen.)

Kurz vor 19 Uhr duschte ich mich und zwängte mich tatsächlich in eine frische lange Hose, wobei der Bauch etwas sperrte. Dann schwang ich mich auf mein Fahrrad und strampelte frohgestimmt über unsere schöne breite Soi, die nach monatelanger Bauzeit endlich gefahrlos zu befahren ist, auf den Petchkasem Highway Richtung Flughafen. Wir wohnen nur etwa 500 Meter davon entfernt. Auf der anderen Seite des Highways war eine wahre Völkerwanderung aus Uniformen und gelben Hemden unterwegs, die am Rande der Straße in langen Reihen Aufstellung nahm.

Kaum war ich am Flughafen angekommen, kamen auch schon mehrere schwere Limousinen hintereinander in strammer Fahrt herausgeprescht und bogen Richtung Hua Hin ab. Die Kameraden in Braun hielten mit Trillerpfeife und Leuchtstöcken den Verkehr in Schach, damit die Karawanen freie Fahrt hatten. Aber urplötzlich war der Spuk vorbei und auch die Verkehrspolizisten verschwanden, doch die vielen Menschen am Straßenrand blieben stehen. Nanu, wie hieß dieser Film schon wieder? Ich bog auf das Flughafengelände ein. Das Empfangsgebäude war hell erleuchtet, aber ich konnte keine Menschenseele darin sehen. Davor stand eine zweimotorige Düsenmaschine der Königlichen Royal Airforce mit offenen Türen und noch laufenden Motoren, die offenbar gerade gelandet war. Da muß wohl so etwas wie eine Vorhut angekommen sein, dachte ich mir. Der König wird wohl noch kommen.

Ich radelte wieder nach Hause, nachdem es aus den Reihen munkelte, dass der König erst gegen 21 Uhr eintreffe. Doch der König kam weder um 21 Uhr noch um 22 Uhr und auch nicht um 23 Uhr. Es war 23.40 Uhr als die schlohweiße Königslimousine an unserem kleinen Flugplatz vorbeifuhr. Die Polizei hatte den Verkehr auf dem sechsspurigen Highway zum Ersterben gebracht. Nichts regte sich. Es war tiefe Nacht und mucksmäuschenstill. Selbst aus dem Menschenmeer unter den orangegelben Straßenlaternen, das die Polizei mit festem Stiefelschritt zu einer disziplinierten, endlosen Spalierreihe aus ergeben wartenden Königsverehrern geformt hatte, drang kein Laut. Nur die Mücken umschwärmten unsere Köpfe in gewohnt respektloser Weise, und von Ferne brüllte die schwerblütige Diesellok eines Nachtzuges.

Am Straßenrand stand das Volk des Königs. Knapp 5 Kilometer sind es vom Flugplatz bis zum Königspalast und 5 Kilometer lang war die geschlossene, lückenlose Reihe von gelben Hemden und adretten Uniformen. Komplette Universitätsklassen in ihrer Einheitskluft, Staatsbedienste in ihren hellbraunen Dienstanzügen, Firmenangestellte in gelben Hemden. Da stand das Volk des Königs wie eine nicht wanken wollende Mauer seit 5 Stunden hinter selbstgebastelten Spruchbändern und Transparenten, fähnchenwedelnd und mit brennenden gelben Kerzchen in der tropischen Mückennacht, um für einen Sekundenbruchteil einen Blick auf ihren gottgleichen Monarchen zu erhaschen, der endlich mit gebremster Fahrt ganz nah an ihnen vorbeirollte. Ein denkwürdiger Augenblick, ein gänsehauterzeugender Glücksmoment, fraglos jeder Mühsal wert.

Was ist das für ein Volk? Von Kindesbeinen an lernen sie zu gehorchen und in Reihen zu stehen, sich gleich zu kleiden und sich unauffällig und höflich zu verhalten. Sie lernen Schroffheiten zu vermeiden und Gefühle zu kontrollieren. Ihre Geduld und ihr Ausharrvermögen erreichen überirdische Formen, und ihre kindliche Nettigkeit ist legendär und hat weltweiten Ruf. Was ist das für ein Volk? Da harren tausende uniform gekleidete Menschen still und bescheiden mitten in der Nacht am Rande der Straße stundenlang auf ein Sekundenereignis, in dessen Kulminationspunkt man gewahr wird, wie aus bewegender persönlicher Anbetung ein glühendes Nationalgefühl wird, hinter dem alle individuellen Regungen zurückbleiben müssen und das eine für alle deckungsgleiche Identität stiftet, ein Volksgeist, wo jeder Einzelne sich als Teil eines großen Ganzen wiederfinden kann, unterschiedslos, stolz und selbstbewußt. Was ist das für ein Volk?

©Paul Martini, 11. 6. 2008

Donnerstag, 3. Dezember 2009

Die Bierdiebinnen

Eine ebenso verbreitete wie beliebte Abendunterhaltung in Thailand sind Karaokebars. Oder in abgespeckter Form auch Singer-Song-Bars. Der männliche Teil der Thaibevölkerung liebt sie. Zumeist besucht der Thai sie zusammen mit ein paar Freunden. Man trinkt Thaiwhisky mit Soda und kann auch ein paar Gerichte bestellen. Vielfach setzen sich Animiermädchen mit an den Tisch. In den Karaokebars treten Sängerinnen auf einer Bühne auf. Da die schwer betankten Männer nach einem solchen Abend die Rechnung nicht mehr korrekt kontrollieren können, wird auch schon mal mit allerlei unsauberen Tricks versucht, die Beträge kreativ aufzurunden. Hiervon handelt die folgende Geschichte.

Die Bierdiebinnen

Mir persönlich sind Karaokebars viel zu laut und nicht wenige sind die reinsten Abzockschuppen. Wenn man in dem schiefen Eselsgeheule dieser halbnackten Debütantinnen, die aussehen als seien sie in den Schminktopf eines Kirmeswagens gefallen, und die sich in ihren viel zu hohen Stiefeln etwa so anmutig bewegen wie die Holzschnitzfiguren eines Krippenspiels, auch noch einen Gesang erkennen könnte, dann wüsste man wenigstens wofür man sein Geld dort lässt!
Es begab sich, dass ein Freund von mir eine neue Bekanntschaft gemacht hatte. Eines Abends saßen wir gemütlich beim Bier, als jene anrief. Sie könne leider, leider nicht zu uns kommen, denn sie würde einer Freundin in einer Singer-Song-Bar – so heißen diese finsteren, verkrachten Musikschuppen, wo man zur Einwurfmusikbox zwar mitsingen kann, doch auf Tanzgirls verzichten muß – aushelfen und ob wir nicht zu ihr kommen könnten. Freilich konnten wir das! Der Lady Geheiß war uns Befehl. Also rein ins Auto und los gings quer durch die dunkle Nacht. Den Ortsteil kannten wir, die Bar aber nicht. Wir fanden sie dennoch. Sie befand sich im Erdschoß eines Townhauses. Dunkel wars draußen, dunkel wars drinnen. Die feierfreudigen Girls der Bar begrüßten uns mit großem Hallo und führten uns an einen freien Tisch. In der Ecke hing ein Fernsehgerät knapp unter der Zimmerdecke, in dem pausenlos Musikvideos liefen und im hinteren Teil stand eine bequeme Sofalandschaft, worin sich zwei ältere Farangs mit ihren offenkundig festgewachsenen thailändischen Schlingpflanzen tief eingegraben hatten.
Die neue Bekanntschaft meines Freundes hieß Noi und musste auf einmal überhaupt nicht mehr arbeiten. Stattdessen quetschte sie sich eng an seine Seite, von der sie fürderhin auch nicht mehr wich. Auch mir wurde eine gut gewachsene Thaischönheit vom Lande zugeteilt, die angeblich erst vor einer Woche die Unwirtlichkeit ihres Isaandorfes hinter sich gelassen hatte, um in dem verlockenden Touristenmekka die selbstverständlich überall achtlos herumliegenden Thaibaht aufzusammeln. Natürlich sprach sie kein Wort Englisch, was sie aber an diesem Abend auch nicht brauchte.
Wir bestellten Bier und sangen nach Kräften zu den Videos und es versprach ein rundum ausgelassener Abend zu werden. Mit der Zeit wunderte ich mich, dass das Bier immer so schnell zur Neige ging, bis ich bemerkte, dass die Bediengirls sich ungeniert und ausgiebig an unseren Bieren labten. Sie hielten uns wohl für halbblinde Trunkenbolde, die im Taumel ihrer wahrnehmungsgetrübten Bierseligkeit schon lange nichts mehr mitkriegten und waren plötzlich stocksauer, als ich ihren Bierdiebstahl aufdeckte. Die alten Haudegen aus der Kuschelecke waren mittlerweile auch aufgetaut und sprangen mit ihren Thaikätzchen etwas talentlos um die Tische, was ein wenig so aussah als hätte man einer Gruppe Lahmer und Bettlägeriger die Hosen angezündet. Unterdessen erzählte mir die Schönheit vom Lande herzbrechende Kummergeschichten aus der verlassenen Heimat, von karstigen Feldern, miserablen Ernten und rappeldürren Büffeln, von untreuen Ehemännern, hinfälligen Eltern und zurückgelassenen Kindern, und gab mit treuseligem Augenaufschlag bekannt, dass sie im fremden Hua Hin wohnungslos sei und ihr Barvermögen genau 1000 Baht betrüge.
Den Mann will ich sehen, dem vor solch packenden Rührseligkeiten das edle Herz nicht dahin schmilzt. Doch es kam ganz anders, als ihr nun denkt. Noi, die Bekanntschaft meines Freundes, hatte sich an all den vielen Bierchen wohl ein wenig verhoben, denn sie taumelte immer öfter zur Toilette, wo mein Freund sie bald in inniger Umarmung des Klobeckens vor ihrer letzten Reismahlzeit wieder fand. So war es Zeit zum Gehen. Die Rechnung kam, und sie war viel zu hoch. Die Rache der Bierspitzbuben. Mein Freund, ewig knapp bei Kasse und für harte Kampfverhandlungen nicht mehr in der Lage, hatte genug mit seiner Noi zu tun, deren Kopf mit verdrehten Augen in sein offenes Hemd gesunken war, aus dem eine säuerlich duftende Wolke aufstieg. Ich lehnte die Rechnung mit Verweis auf die listig hinzuerfundenen Phantasiebierchen ab und bat um eine Korrektur. Aber wer hat in einer Thai-Bar schon jemals erfolgreich über seine Rechnung verhandeln können? So blieben die Fronten verhärtet und es bahnte sich ein unguter Sanukabsturz an. Die Sofakameraden torkelten auch schon zum Ausgang, gestützt auf ihre Thaischneckchen. Da stand meine Isaanbraut auf, griff beherzt in ihre Hosentasche und zog den ihr angeblich einzig verbliebenen Tausenderschein hervor und warf ihn mit heroischer Geste auf das Zahltablett. Auf diese Wendung war ich nicht gefasst.
Ich verließ das Lokal und sank davor in der frischen Nachtluft auf ein wackeliges Plastikstühlchen. „Auweia, die muß noch viel lernen“, stöhnte ich vor mich hin. „Wer mit Farangs ausgeht, muß diese auch bezahlen lassen.“ Mein Freund kam nun auch heraus, seine nicht mehr gehfähige Noi über der Schulter, und hinter ihm die ausgefuchsten, hintertriebigen Bierdiebinnen, die in der Annahme, dass wir den Ausgleich der Forderungen nicht mitbekommen hatten, noch immer mit der Rechnung wedelten. So zahlten wir endlich. Wir wollten das dumme Isaanhascherl denn doch nicht für uns aufkommen lassen und dachten, dass sie nun ihr Geld zurückerhalte. Doch weit gefehlt! Nächstentags mussten wir erfahren, dass die raffinierten Bargirls ihr weiterhin mit Verweis auf ihre zechprellerischen Farangbegleiter das Geld vorenthielten. Sie hatten die Rechnung geschickt zweimal kassiert.

©Paul Martini, 17. 5. 2008

Sawadi bi mai, Buddha!

Heute ging ich zu Buddha.

Die Luft war weich und roch nussig, und von hinten schlüpften mir ein paar vorwitzige Lüftlein unters verschwitzte Hemd, um mich ein wenig zu kitzeln. Das tat mir gut. Vor mir lag ein spiegelblanker Bergsee, über dem sich eine tobende Bande junger Mauersegler übermütige Flugmanöver lieferten. Immer wieder stachen sie pfeilgerade in den Himmel, bogen blitzgeschwind in scharfe Kehren ein und sausten im Segelgleitflug über die glatte Wasseroberfläche zurück.

Auf einer Wasserplattform lärmten ein paar betrunkene Thais in der sich senkenden Nachmittagssonne und reichten sich Bierflaschen zu. Dann wieder Stille über den alten chinesischen Grabanlagen. Nur das Mahlen der Reifen in dem ausgewaschenen Sandweg und das Flüstern des Windes in den blattlosen Bambusgehölzen.

Buddha hatte mich schon kommen sehen, was kein Kunststück war, schließlich thronte er erhaben hoch oben vor einer Felswand, zu der exakt 109 Stufen hinaufführten. So konnte er das Gelände bis zum Meer weithin gut überblicken. Ich begrüßte ihn mit einem artigen Wai*, aber er verzog keine Miene. Man hatte ihn in ein frisches goldscheinendes Gewand gekleidet und über seinem respektablen Kugelbauch baumelte eine überdimensionierte Halskette aus schwarzen Perlen, die ihm bis zum Bauchnabel reichte. Vor seinen unterschlagenen Füßen standen je zur Seite ein Strauß vertrockneter Blumen und in der Mitte ein halbvoller Plastikbecher mit Wasser, aus dem ein Strohhalm herausragte.

„Ei, Buddha“, sagte ich, „da sitzt du hier abseits in den Hügeln auf den verbrannten Knochen von ein paar toten Chinesen und schaust auf uns herunter als wären wir Gewürm. Was denkst du dir nur? Dabei braucht dich doch keiner mehr, außer ein paar alten Weibern vielleicht, die dir ihre Ersparnisse in den Wat* schleppen. Doch als Lehrmeister bist du nicht mehr gefragt. Von wegen „achtfacher Weg zur Überwindung des Leidens“! Daß ich nicht lache! Davon will doch heute keiner mehr was wissen! Kwam Suk* und Sabei* ist angesagt und viel Sanuk*!“

Gewiss, ich redete ein wenig respektlos daher, aber dem Buddha kann ich das schon mal sagen, auch ganz direkt und unverschnörkelt, nicht so wie zu meinen lieben Thais, die es mögen, wenn man möglichst verwunschen um den heißen Brei herum fabuliert und dabei mehr an Klarheit vernichtet als vorher auch schon nicht da war.

Doch Buddha blieb stumm. Er zwinkerte noch nicht mal mit den Augen. Würdevoll blickte er über mich hinweg als sei ich gar nicht vorhanden, und tat als hätte er kein Wort verstanden. Dabei wusste ich, dass er genau zuhört, wenn man zu ihm spricht. Ich kratzte mich am Hinterkopf und guckte schräg zu ihm hinauf. Kahlköpfig und halslos saß er da mit seinem gemeisselten Lächeln und die überbordende Leibesfülle machte mir nicht den Eindruck als sei sie das Resultat eines asketischen Lebens. Ein schlimmer Verdacht kroch in mir hoch: Wollte er die halbe Welt etwa zum Narren halten? Hey, dachte ich mir, der sitzt da und lacht uns alle aus. Etwas schien nicht so ganz zu stimmen. Ich kam ins Sinnieren.

„Schau mal“, sagte ich schließlich, „was macht es für einen Sinn, wenn du so schlaue Sachen wie Demut, Geduld und Bescheidenheit predigst, sich aber doch niemand darum schert und auch keiner danach lebt? Kommt dir nicht auch der Gedanke, dass du genauso zu Taubstummen reden könntest? Wohin ich auch gucke, so sehe ich das genaue Gegenteil: Habgier, Ungeduld und Angeberei. Und wer will denn noch von Lehrmeistern lernen? Unsere thailändischen Mitbürger etwa? Ha, dass ich nicht lache! Denen können ja noch nicht mal ihre eigenen Schulmeister etwas beibringen. Sie lernen wenig, können aber alles. Sie sind große Meister auf allen Gebieten und machen niemals Fehler. Ihr Wissen beziehen sie aus Comic-Heften und kreischenden Soap-Shows und ihr Geld holen sie sich in Form von Krediten, die sie nicht zurückzahlen. Au, Buddha, ich glaube, hier musst du durch harte Bretter.“

Mein Blick wanderte über den majestätisch ruhenden Bergweiher, auf dem ein schwarzes Schwanenpaar zu einem abendlichen Ausflug aufgebrochen war.

„Was hältst du von einem praktischen Beispiel?“ wandte ich mich Buddha wieder zu. „Sagen wir, ich leihe einem Thai Geld und er vertröstet mich mit der Rückzahlung, so warte ich ohne Murren in GEDULD. Wenn ich die Zahlungen anmahne, schickt er mir einen Boten ins Haus, der mir statt Geld in seiner mitgebrachten Tasche ein paar sehr griffige Argumente zeigt, also übe ich mich in DEMUT. Wenn der Schuldner nach einer Weile sang- und klanglos verschwindet, natürlich ohne zurückzuzahlen, dann übe ich mich in BESCHEIDENHEIT und nachdem ich dies alles ein paar Mal mitgemacht habe, übe ich mich in BESITZLOSIGKEIT und bin damit reif für den Gang in den Wat. Nach all den vielen Übungen ist mein Besitz nämlich von mir weg- und zu einem Thai hingegangen. Nun übe ich mich in GÜTE und VERZEIHEN, denn es ist sicherlich eine verirrte Seele.“

Jetzt sah ich ihn zum erstmal Blinzeln. Oder war es, dass die Sonne mir einen verirrten Strahl zugeworfen hatte? Nein, nein er schmunzelte, ich sah es genau. Buddha hatte Sinn für Humor. Augenscheinlich gefiel es ihm wie ich seine kundigen Anmahnungen in einen praktischen Thai-Kontext stellte. Er runzelte etwas die Stirn und schien nachzudenken. So hatte er das noch gar nicht gesehen.

Leben ist Leiden, hatte er immer gepredigt, und dem kann der Mensch nicht entrinnen. Nur mit den rechten Handlungsanweisungen ist ihm zu begegnen, wobei Ziel das Durchbrechen der ewigen Wiedergeburtswiederholungen ist und das Erreichen des erlösenden Nirwana, dem Ende allen Leidens. Aber in Thailand ist Leben Sanuk und darunter leidet ja niemand, weswegen es auch nicht bekämpft zu werden braucht. Schon gar nicht, indem man auf einem achtfachen Pfad wandelt, da ist eine plärrende Karaoke und reichlich Lao Khao* allemal ausreichend, zumal auch noch laufend edle Taten vollbracht werden! Oder hat es noch keiner erlebt wie harte whiskybeduselte Sanukkämpfer den vorbeigehenden Falang zum kostenlosen Mittrinken einladen? Mir scheint Thailand wirklich ein kleines Paradies zu sein. Hier muß sich keiner auf kompliziert zu begehende Pfade begeben, um ins Nirwana zu kommen. Nein, das Nirwana ist doch schon hier mitten unter uns! Sollten wir es vielleicht in Thaiwana umbenennen?

„Ach, Buddha“, sagte ich, und ließ meinen Blick verloren über seine Rundungen schweifen, „kann es sein, dass du etwas übersehen hast? Guck mal, du hast dich ein Leben lang geknechtet, hast unterm Feigenbaum am indischen Flussufer gesessen und dich durch zahllose Meditationen gequält, und im Alter von 35 Jahren zu guter Letzt die Erleuchtung erlangt, aber was ist mit Sanuk? Und was ist mit deinen thailändischen Landeskindern, frage ich dich? Diese feierfrohen Spaßpinsel mit ihren simplen Gemütern hast du völlig übersehen. Die halten dich doch für einen geizigen Langeweiler und sanukresistenten Spielverderber!“

In den jungen Casuarinenhain fuhr ein scheues Windchen und bog die hohen Bäume sanft als wollten sie sich zum Abschied verneigen. Ein Windspiel klingelte über einem Altar und aus dem verdorrten Sträuchermeer auf den Hügeln schickte mir ein Schreivogel seine gellenden Abendrufe herüber. Das milde Licht der ersterbenden Sonne spannte noch einmal einen grandiosen Lichterschirm voller würziger Farben auf, als solle den Totengeistern trotzig die Schönheit des Diesseits vorgeführt werden. Selbst dem Buddha glänzten noch einmal gülden die Bäckchen. Ich stieg zu meinem Rad hinab, begleitet vom Rascheln der kleinen Echsen, die durchs Unterholz Reissaus nahmen, doch auf halber Höhe drehte ich mich noch einmal zu IHM um.

„Weißt du, Buddha, du hast es gewiß nur gut gemeint. So wie auch wir hier manchmal gutmeinende Dinge tun, die uns aber nicht gedankt werden. Doch könntest du dir vorstellen, noch einmal darüber nachzudenken, ob du speziell für unsere lieben thailändischen Landesfreunde deine Lehren überprüfst? Vielleicht wäre ihnen ja schon geholfen, wenn sie auf ihrem achtfachen Pfad ein Moped benutzen dürften, was meinst du? - Sawadi bi mai*, Buddha!“



*Wai = thailänd. Begrüßung mit zusammengelegten Händen vor der Brust

*Wat = Tempel

*Kwam Suk = Glücklichsein

*Sabei = Wohlbefinden, sich wohl fühlen

*Sanuk = Spaß haben

*Lao Khao = Reisschnaps

*Sawadi bi mai = Frohes Neujahr!



(c)Paul Martini, 31. 12. 2006

Dienstag, 1. Dezember 2009

Gespräch mit dem Meer

Heute ging ich zum Meer. Es ist nicht weit von meinem Haus. Ich muß nur über die Straße laufen und einen staubigen Weg hinab gehen. Grün und dunstig lag es da in der scharfen Frühsonne. Ein jugendlicher Brausewind raspelte über die kippelnden Wellenketten, und ich zog das Hemd aus und genoß die jungen zerrenden Böen auf meiner Haut. Prüfend zog ich die Luft ein.

"Heute riechst du gut", sagte ich, "nicht so verschwitzt und faulig wie in den letzten Tagen."

Das Meer schwieg. Ich setzte mich auf ein Mäuerlein und sah den tänzelnden Uferwellen bei ihren verspielten Raufereien zu. Ein schwarzer Vogel segelte lautlos vorüber, den Schnabel voller trockener Stengel, und ein einmotoriger Flieger brummte im Landeanflug durch den Morgen und fast schien es, als wolle er auf den heranstolpernden Wellen aufsetzen und darauf hinwegsegeln.

"Was hast du mir heute zu sagen?" fragte ich.

"Sei, der du bist!" antwortete das Meer aus der Tiefe.

"Erbarmen!" stöhnte ich, "nicht schon in aller Frühe solch schwere Kost!"

"Das ist nicht schwer!" brummte das Meer.

"Bist du denn, der du bist?"

"Ich bin das Meer", sagte das Meer katzig und warf eine mächtige Woge klatschend gegen die Ufermauer. Im Aufprall verlor das Wasser seine Spannung und zerbarst in einem furiosen Koller von sprühender Gischt und auseinander gerissenen Wasserfetzen.

"Sonst geht’s noch, was?" rief ich aus. "Du liegst hier herum und spuckst große Töne. Dabei bist du auch nicht immer wie du mir gefallen würdest. Mal liegst du schlafend wie eine blitze blank geputzte Tischplatte zwischen den Felsen und regst nicht das kleinste Wellchen. Mal wirfst du dich schnaufend hin und her, schlägst trotzige, wilde Haken und spuckst verächtlich auf die Welt und kommst dir in deiner maßlosen Schaumschlägerei vor als seiest nur du der Zeiger der Zeit."

"Gut erkannt, mein Lieber. Ich bin das Meer und was mich ausmacht, sind meine guten und schlechten Eigenschaften. Ob sie anderen gefallen, spielt für mich keine Rolle, denn ich bin wie ich bin. Ich bin unverwechselbar Ich selbst. Ich kann mir mein Sosein gar nicht aussuchen. Ich kann gar nicht anders sein als ich bin, und indem ich so bin, bin ich gut. Wertfrei gut! Ich bin mit mir im Reinen, denn ich lebe mich selbst. Neurosenfrei und ohne Magengeschwüre. Ihr aber wollt immer anders sein. Euch genügt die euch einmalig mitgegebene Grundausstattung nie. Ihr wollt immer so sein wie ihr euch andere denkt. Ihr seid einfach viel zu wenig ihr selbst."

Ein Plamük-Verkäufer tippelte heran mit seinem großrädrigen Schiebewagen und ich roch seine aufgehängten Trockenfische sogar gegen den Wind. Unter meinen Füßen gurgelte das ablaufende Wasser durch die Gesteinslöcher und schwarze Krebse mit nass glänzendem Panzer krabbelten schräg über die abgeschliffenen Felsenbacken.

"Ach, papperlapapp", schleuderte ich dem Meer entgegen.
„Wir nutzen unsere Begabungen und Fähigkeiten sehr wohl. Wir lernen und wir verbessern sie. Wir entwickeln uns weiter, aber was du machst, ist Stillstand. Und darauf bist du auch noch stolz! Pah!"

"Reg dich nicht auf", brummte das Meer, "in der Natur gab es noch niemals Stillstand. Was du Weiterentwicklung nennst, nenne ich Wachstum, und in der Natur ist Wachsen ein langsamer Prozeß. Euch geht alles nicht schnell genug, ich weiß. Ihr wollt immer gleich Ergebnisse sehen. Ihr könnt nicht warten und ihr bleibt nicht ihr selbst. Ein schrecklicher Fehler. Ihr habt nur noch das Geld im Blick und laßt euch dazu verleiten, etwas zu tun, was ihr nicht unbedingt gut könnt und das, was ihr gut könnt, entwickelt ihr nicht weiter."

"Das ist mir zuviel Theorie", wand ich ein.

"Nun gut", ließ das Meer sich herbei, "ein Beispiel. Einer, der gut Baßgeige spielen kann, muß den Beruf eines Speditionskaufmanns erlernen, weil er mit seiner Baßgeige sich und seine Familie nicht ernähren kann. Sein ureigenes Naturell verkümmert, denn er hört auf, in sich hineinzuhorchen und Dinge herauszukehren, mit denen er sich und andere erfreuen könnte. Stattdessen muß er für termingerechte Anlieferungen seiner Lkws sorgen und sich die Beschwerden der Kunden über Falschlieferungen und kaputte Ware anhören. Abends kommt er nach Hause ohne Power und ertränkt die aufgewühlte Seele in Bier und Schnaps."

"Ha", rief ich aus, "das ist doch ein an den Haaren herbeigezogener, stinkender Käse, den du mir da auftischst. Kein Ingenieur wäre Ingenieur geworden, wenn er nicht sein Geschick für Zeichnungen am Reißbrett mitgebracht hätte! Kein Metzger wäre Metzger geworden, wenn er nicht Tiere töten und zerteilen könnte und kein Lehrer wäre Lehrer geworden, wenn er nicht eine gute Redegabe besäße."

"Aha!" warf das Meer ein, "aber was machst du dann hier in Thailand? Den lieben langen Tag sitzt du knotternd herum und läßt dich von deiner Thaifrau bedienen und wenn du die Nase davon voll hast, dann triffst du dich mit deinen Kumpels in billigen Unterständen, wo ihr euch eure quadratischen Ärsche plattsitzt und Bier in solchen Mengen schüttet, daß es euch eigentlich euer Arzt verbieten müßte. Deine Tage sind voller Langeweile und Unproduktivität. Nix da vonwegen Weiterentwicklung. Zurückentwicklung wäre die passendere Bezeichnung. Zurückentwicklung in vorkindliche Stadien. Denn da ihr außer Schwatzen und Trinken alles aufgegeben habt, werdet ihr zu einem pflegebedürftigen rundlichen Wickelpaket, das euren fürsorglichen thailändischen Ehefrauen viel Nachsicht und Langmut abverlangt."

„Ja, ja, ein Wickelpaket mit ATM-Funktion“, prustete ich los.

Allmählich bekam das Gespräch eine unangenehme Wendung und ich sann auf einen schlauen Einwurf, der das Meer ablenken und wieder beruhigen könnte. Doch es brauste weiter fort: "Ihr laßt euch hier in einer Weise gehen wie ihr es euch zu Hause nie erlauben würdet. Da bekämt ihr schon eher mal zu hören, was ihr doch für ein fades Hanswürstchen seid, aber hier haut ihr den Thais eure schmalen Renteneuros um die Nase und seid auch noch so frech, sie dabei zu verhöhnen.“

„Wie bitte?“ fuhr ich jetzt aber dazwischen, „die armen, armen Eingeborenen, was? Eine brave, kopfscheue Schar Kälber und Schafe, die sich schutzlos von den Übertölpelungen der eingefallenen Geldtyrannen foppen lassen müssen! Verdrehst du nicht ein wenig die Realitäten?“

Doch das Meer fuhr unbeirrt fort: „Ein Thai lernt schon in frühen Jahren, Gelassenheit und Lammesgeduld gegenüber seinen Mitmenschen aufzubringen. Dies kommt auch euch zugute, wohingegen ihr umgekehrt mit euren hitzigen Schnellverurteilungen dazu nicht fähig seid.“

"Kommst du nicht ein wenig vom Thema ab?"

"Ja, du hast recht", sagte das Meer. "Ich habe dir keine Vorhaltungen zu machen. Doch manchmal spiegelst du dich in mir, und es betrübt mich zu sehen, wie viel du einfach nicht begreifen willst. Sei, der du bist und belausche dich selbst! Nutze deine Talente! Denn möglicherweise kannst du ja doch mehr, als abendliche Gläser mit Bier und Eiswürfeln zu befüllen."

Das Meer zog eine verschlagene Grimasse. Dann warf es sich mit einer kraftvollen, sehnigen Woge auf die Seite und glitt seifig durch die glatten Wellentäler davon.

"So läßt du mich hier sitzen, hä!" rief ich ihm noch hinterher.

"Sei, der du bist!" raunte es halberstickt von den Schultern der grün schimmernden Wellenkämme, über die der halbwüchsige Ostwind einen würzigen Holzkohlenduft mitbrachte. Zeit zum Mittagessen.

© Paul Martini, 12. 12. 2006