Dienstag, 1. Dezember 2009

Gespräch mit dem Meer

Heute ging ich zum Meer. Es ist nicht weit von meinem Haus. Ich muß nur über die Straße laufen und einen staubigen Weg hinab gehen. Grün und dunstig lag es da in der scharfen Frühsonne. Ein jugendlicher Brausewind raspelte über die kippelnden Wellenketten, und ich zog das Hemd aus und genoß die jungen zerrenden Böen auf meiner Haut. Prüfend zog ich die Luft ein.

"Heute riechst du gut", sagte ich, "nicht so verschwitzt und faulig wie in den letzten Tagen."

Das Meer schwieg. Ich setzte mich auf ein Mäuerlein und sah den tänzelnden Uferwellen bei ihren verspielten Raufereien zu. Ein schwarzer Vogel segelte lautlos vorüber, den Schnabel voller trockener Stengel, und ein einmotoriger Flieger brummte im Landeanflug durch den Morgen und fast schien es, als wolle er auf den heranstolpernden Wellen aufsetzen und darauf hinwegsegeln.

"Was hast du mir heute zu sagen?" fragte ich.

"Sei, der du bist!" antwortete das Meer aus der Tiefe.

"Erbarmen!" stöhnte ich, "nicht schon in aller Frühe solch schwere Kost!"

"Das ist nicht schwer!" brummte das Meer.

"Bist du denn, der du bist?"

"Ich bin das Meer", sagte das Meer katzig und warf eine mächtige Woge klatschend gegen die Ufermauer. Im Aufprall verlor das Wasser seine Spannung und zerbarst in einem furiosen Koller von sprühender Gischt und auseinander gerissenen Wasserfetzen.

"Sonst geht’s noch, was?" rief ich aus. "Du liegst hier herum und spuckst große Töne. Dabei bist du auch nicht immer wie du mir gefallen würdest. Mal liegst du schlafend wie eine blitze blank geputzte Tischplatte zwischen den Felsen und regst nicht das kleinste Wellchen. Mal wirfst du dich schnaufend hin und her, schlägst trotzige, wilde Haken und spuckst verächtlich auf die Welt und kommst dir in deiner maßlosen Schaumschlägerei vor als seiest nur du der Zeiger der Zeit."

"Gut erkannt, mein Lieber. Ich bin das Meer und was mich ausmacht, sind meine guten und schlechten Eigenschaften. Ob sie anderen gefallen, spielt für mich keine Rolle, denn ich bin wie ich bin. Ich bin unverwechselbar Ich selbst. Ich kann mir mein Sosein gar nicht aussuchen. Ich kann gar nicht anders sein als ich bin, und indem ich so bin, bin ich gut. Wertfrei gut! Ich bin mit mir im Reinen, denn ich lebe mich selbst. Neurosenfrei und ohne Magengeschwüre. Ihr aber wollt immer anders sein. Euch genügt die euch einmalig mitgegebene Grundausstattung nie. Ihr wollt immer so sein wie ihr euch andere denkt. Ihr seid einfach viel zu wenig ihr selbst."

Ein Plamük-Verkäufer tippelte heran mit seinem großrädrigen Schiebewagen und ich roch seine aufgehängten Trockenfische sogar gegen den Wind. Unter meinen Füßen gurgelte das ablaufende Wasser durch die Gesteinslöcher und schwarze Krebse mit nass glänzendem Panzer krabbelten schräg über die abgeschliffenen Felsenbacken.

"Ach, papperlapapp", schleuderte ich dem Meer entgegen.
„Wir nutzen unsere Begabungen und Fähigkeiten sehr wohl. Wir lernen und wir verbessern sie. Wir entwickeln uns weiter, aber was du machst, ist Stillstand. Und darauf bist du auch noch stolz! Pah!"

"Reg dich nicht auf", brummte das Meer, "in der Natur gab es noch niemals Stillstand. Was du Weiterentwicklung nennst, nenne ich Wachstum, und in der Natur ist Wachsen ein langsamer Prozeß. Euch geht alles nicht schnell genug, ich weiß. Ihr wollt immer gleich Ergebnisse sehen. Ihr könnt nicht warten und ihr bleibt nicht ihr selbst. Ein schrecklicher Fehler. Ihr habt nur noch das Geld im Blick und laßt euch dazu verleiten, etwas zu tun, was ihr nicht unbedingt gut könnt und das, was ihr gut könnt, entwickelt ihr nicht weiter."

"Das ist mir zuviel Theorie", wand ich ein.

"Nun gut", ließ das Meer sich herbei, "ein Beispiel. Einer, der gut Baßgeige spielen kann, muß den Beruf eines Speditionskaufmanns erlernen, weil er mit seiner Baßgeige sich und seine Familie nicht ernähren kann. Sein ureigenes Naturell verkümmert, denn er hört auf, in sich hineinzuhorchen und Dinge herauszukehren, mit denen er sich und andere erfreuen könnte. Stattdessen muß er für termingerechte Anlieferungen seiner Lkws sorgen und sich die Beschwerden der Kunden über Falschlieferungen und kaputte Ware anhören. Abends kommt er nach Hause ohne Power und ertränkt die aufgewühlte Seele in Bier und Schnaps."

"Ha", rief ich aus, "das ist doch ein an den Haaren herbeigezogener, stinkender Käse, den du mir da auftischst. Kein Ingenieur wäre Ingenieur geworden, wenn er nicht sein Geschick für Zeichnungen am Reißbrett mitgebracht hätte! Kein Metzger wäre Metzger geworden, wenn er nicht Tiere töten und zerteilen könnte und kein Lehrer wäre Lehrer geworden, wenn er nicht eine gute Redegabe besäße."

"Aha!" warf das Meer ein, "aber was machst du dann hier in Thailand? Den lieben langen Tag sitzt du knotternd herum und läßt dich von deiner Thaifrau bedienen und wenn du die Nase davon voll hast, dann triffst du dich mit deinen Kumpels in billigen Unterständen, wo ihr euch eure quadratischen Ärsche plattsitzt und Bier in solchen Mengen schüttet, daß es euch eigentlich euer Arzt verbieten müßte. Deine Tage sind voller Langeweile und Unproduktivität. Nix da vonwegen Weiterentwicklung. Zurückentwicklung wäre die passendere Bezeichnung. Zurückentwicklung in vorkindliche Stadien. Denn da ihr außer Schwatzen und Trinken alles aufgegeben habt, werdet ihr zu einem pflegebedürftigen rundlichen Wickelpaket, das euren fürsorglichen thailändischen Ehefrauen viel Nachsicht und Langmut abverlangt."

„Ja, ja, ein Wickelpaket mit ATM-Funktion“, prustete ich los.

Allmählich bekam das Gespräch eine unangenehme Wendung und ich sann auf einen schlauen Einwurf, der das Meer ablenken und wieder beruhigen könnte. Doch es brauste weiter fort: "Ihr laßt euch hier in einer Weise gehen wie ihr es euch zu Hause nie erlauben würdet. Da bekämt ihr schon eher mal zu hören, was ihr doch für ein fades Hanswürstchen seid, aber hier haut ihr den Thais eure schmalen Renteneuros um die Nase und seid auch noch so frech, sie dabei zu verhöhnen.“

„Wie bitte?“ fuhr ich jetzt aber dazwischen, „die armen, armen Eingeborenen, was? Eine brave, kopfscheue Schar Kälber und Schafe, die sich schutzlos von den Übertölpelungen der eingefallenen Geldtyrannen foppen lassen müssen! Verdrehst du nicht ein wenig die Realitäten?“

Doch das Meer fuhr unbeirrt fort: „Ein Thai lernt schon in frühen Jahren, Gelassenheit und Lammesgeduld gegenüber seinen Mitmenschen aufzubringen. Dies kommt auch euch zugute, wohingegen ihr umgekehrt mit euren hitzigen Schnellverurteilungen dazu nicht fähig seid.“

"Kommst du nicht ein wenig vom Thema ab?"

"Ja, du hast recht", sagte das Meer. "Ich habe dir keine Vorhaltungen zu machen. Doch manchmal spiegelst du dich in mir, und es betrübt mich zu sehen, wie viel du einfach nicht begreifen willst. Sei, der du bist und belausche dich selbst! Nutze deine Talente! Denn möglicherweise kannst du ja doch mehr, als abendliche Gläser mit Bier und Eiswürfeln zu befüllen."

Das Meer zog eine verschlagene Grimasse. Dann warf es sich mit einer kraftvollen, sehnigen Woge auf die Seite und glitt seifig durch die glatten Wellentäler davon.

"So läßt du mich hier sitzen, hä!" rief ich ihm noch hinterher.

"Sei, der du bist!" raunte es halberstickt von den Schultern der grün schimmernden Wellenkämme, über die der halbwüchsige Ostwind einen würzigen Holzkohlenduft mitbrachte. Zeit zum Mittagessen.

© Paul Martini, 12. 12. 2006

1 Kommentar:

  1. Sehr schoner erster Post, das wird sicher ein Blog, der auffaellt. Du sprichst wahnsinnig viele Punkte an, die mich auch wichtig sind: die zurueckentwicklung ins Kindsein, die ich auch oft als 2te Pubertaet bezeichne, durch die wir Maenner in Thailand muessen faellt mir da als erstes auf.
    Den Dialog finde ich super, beide Personen sprechen wirklich. Vielen Dank, ich werde sicher wiederkommen und hoffe Du bleibst dran.
    Gruss:
    Ben

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