Montag, 25. Januar 2010

Der Geist der alten Thailehrerin (4)

Teil 4, Nui

Das junge Thaimädchen Nui war erst 6 Jahre alt und lebte in einem ärmlichen Hüttenviertel vor einer nicht so großen Thaistadt, wo über die steinigen Schotterwege des Dorfes schwarzgrüne Abwasserrinnsale ihre Bahnen zogen, und alle Kinder barfuß mit zerbrochenem Plastikgeschirr spielten, neben halbtot gefahrenen Hunden, die ausnahmslos die Räude hatten.

Der Vater des Mädchens war eine ausgemergelte Männergestalt und schon früh gealtert. Er hielt sich mit dem Sammeln von Plastikabfällen und Bierglasflaschen über Wasser und verdingte sich zeitweilig auch schon mal als Gelegenheitsmaurer. Abends saß er mit den Männern aus der Nachbarschaft in einem Lattenunterstand vor einem laufenden Fernsehgerät, das aber keiner beachtete, und trank Lao Khao mit viel Sodawasser und wenn er betrunken nach Hause kam und seine Frau von ihm Geld für die Kinder verlangte, schlug er sie bis sie verstummte. Dann aß er noch den von seiner Frau bereitgestellten Teller Reis und legte sich grunzend schlafen, nicht ohne vorher noch über seine wimmernde Frau hergefallen zu sein.

Die Mutter von Nui verkaufte Nudelsuppen für 15 Baht an die Dorfbewohner und schrumpelige Bratfischchen, die sie aus einem nahen Klong gefischt hatte, und nebenher köchelte sie Holzkohle in einem eigenen kleinen Erdmeiler am Bahndamm, aus dem zeitweise würzige Räucherschwaden über die Wege waberten.

Sie hatte zwei Kinder zur Welt gebracht, Nui und Dig, und an ihr hing die Hauptlast der Versorgung der Kleinen, da der Vater das Geld, das er verdiente, auch selber ausgab, zumeist mit Schnaps und Bier und gelegentlich sogar mit fremden Frauen, aber darüber schwieg sie.

Nui war ein lebendiges Mädchen mit einem gerade gewachsenen, wohlgestalteten Körper und einem freundlichen offenen Gesicht. Ihre langen zotteligen Haare, die ihr spielerisch um die schmalen Schultern wehten, verliehen ihr einen frühen Charme von Liebreiz und Grazie. Die kleinen Bengels der Siedlung mochten sie und liefen ihr hinterher, wenn sie aus dem Kindergarten nach Hause kam, aber die Erwachsenen machten nicht viel Aufhebens von ihrer kindlichen Schönheit.

Umso entsetzter waren alle über ihren plötzlichen Tod. Nui lief gerade einer ausgebüchsten Ziege hinterher, die vor einem heranbrausenden Zug davon gesprungen war. Hunderte Male schon war Nui über die holperigen Gleise gehüpft. Ja, manchmal sogar trieben sie und ihre Freunde wagemutige Spielchen vor den herannahenden Zügen. Doch diesmal stolperte sie sehr unglücklich auf den gerölligen, losen Steinen des Bahndamms und knickte mit dem Fuß um. Sie erschrak zutiefst über diesen plötzlichen Stich in ihrem Gelenk, denn einen solchen Schmerz hatte sie noch nie erlebt, und für einen Moment vergaß sie alles um sie herum, aber es war genau dieser eine Moment des Innehaltens, der zu lange dauerte, um noch aufspringen und davonlaufen zu können. Sie blickte hoch und sah dieses heranschnaubende Metallungetüm auf sie zu kommen, das nun auch noch gräßliche Pfeiftöne ausstieß. Starr vor Schreck und Angst zog sich ihr Blut aus den Gliedern zurück, da erfasste sie auch schon das Rammschutzgitter der Lok und wirbelte sie wie eine willenlose Stoffpuppe über das unebene Steinbett. Wie von Ferne hörte sie noch die martialisch kreischenden Bremsen der von dem Lokführer eilig eingeleiteten Vollbremsung, doch dann schlug ihr Kopf gegen etwas Hartes, was ihn nach hinten wegknickte, und mit einem unhörbaren leichten Knacken in ihrem Genick hörte alles Fühlen auf.

Ihr Geist war zur Stelle und küsste sie zum Abschied. Er war nicht froh. Auch Geister sind traurig, wenn kleine Menschen sterben. Aber Geister greifen in ein menschliches Leben nicht ein, sie sind weder Förderer noch Bewahrer, sie sind stille, unerkannte Begleiter, aber keine Schicksalsgestalter. Sein Leben muß der jeweilige Mensch alleine bewältigen, muß die Verantwortung dafür selber tragen und kann sie nicht bei den Geistern abladen. Für die Geister spielt der einzelne menschliche Tod keine Rolle. Sie waren schon in so vielen menschlichen Körpern, haben schon so viele menschliche Leben begleitet, zuviel Leid und Tragödien miterlebt, zuviel Glück und wundersame Fügungen schon gesehen. Darüber wundert sich kein Geist mehr.

1 Kommentar:

  1. Die Geschichte gefaellt mir mit jedem Post besser. Ich lerne durch das lesen bei Dir gerade eine Menge!

    Gruss:
    Ben

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