Montag, 11. Januar 2010

Der Geist der alten Thailehrerin (2)

Teil 2, Die alte Thailehrerin

Die alte Thailehrerin lebte in einem ruhigen kleinen Ort inmitten der Thaiprovinz und ging jeden Morgen voller Missmut und Widerwillen in eine staatliche Schule. Die kleinen fröhlichen Knirpse in ihrer Klasse waren für sie im Laufe der Zeit zu einem zuchtlosen Haufen Ekel geworden, verspielt, unerzogen und lernfaul. Manche kamen barfuß zur Schule oder mit zerschlissenen Schuhen, viele hatten schwarze Fingernägel, waren ungewaschen und rochen schlecht, und besonders die Mädchen hatten die langen Haare voller Läuse. Die meisten waren ungesund und einseitig ernährt, mieden Obst und Gemüse, aßen mit Behagen Kurzgebratenes und jede Menge Süßigkeiten mit künstlichen Aromastoffen und waren bei den geringsten Temperaturschwankungen verschnupft oder hatten Husten.

Die alte Thailehrerin hatte 45 Kinder zu unterrichten, aber um Unterricht ging es schon lange nicht mehr. Ein Gutteil der Zeit verging mit Ermahnungen und Disziplinierungen, um den allgegenwärtigen Geräuschpegel zu dämpfen, damit sie auch in den hinteren Reihen noch gehört werden konnte. Sie war streng. Wer störte, musste sich nach vorne in die erste Reihe setzen, damit er unter ihrer direkten Beobachtung war. Aber sie war nicht streng genug. Das merkte sie bald und begann zu verzweifeln, und das war der Anfang ihrer langen Reise in ihre innere Traurigkeit. Von nun an ging sie in die Schule als würde sie auf Schienen laufen wie eine ferngesteuerte Traisine. Mechanisch und lustlos vollzog sie den Unterricht.

Ihre liebste Schulstunde war morgens zwischen 8 und 9 Uhr, wenn alle Kinder vor der aufgezogenen Thaifahne in Reih und Glied auf dem Schulhof standen und die Nationalhymne absangen, und wenn anschließend die Sünden von ein paar hartgesottenen Taugenichtsen vorgelesen wurden. Es war noch angenehm kühl, und sie konnte seitwärts stehen und ihren Gedanken nachhängen, bevor sie mit ihren Früchtchen in den Klassenraum abmarschierte, der im Laufe des Tages mehr und mehr zu einem wahren Bratloch wurde. Die Kinder schwitzten erbärmlich in ihren engen, festen Uniformhemden und es roch ranzig und nach verschwitzten Füßen wie in einem speckigen Turnsaal. Zwar drehte ein lächerlich kleiner Ventilator an der Decke seine tapferen Runden, doch in den Sitzreihen der Kinder kam keine Linderung an.

Als die alte Thailehrerin pensioniert wurde, kam es ihr vor als hätte irgendjemand der Traisine den Strom abgestellt. Sie musste morgens nicht mehr in die Schule und fühlte sich das erste Mal in ihrem Leben wirklich frei. Sie genoß ihr Leben. Kaufte neue Blumen für ihr Haus, übernahm einen Hund aus der Nachbarschaft und auch eine Katze, räumte die Möbel um und ließ sich eine neue Küche bauen, damit sie nun endlich selber kochen konnte. Aber das freie Leben hatte auch ihre Tücken und das merkte sie bald. Ihre Tage plätscherten dahin, und ohne Arbeit oder Aufgaben kam es ihr ziemlich langweilig vor. Sie ging aus und traf sich mit Freundinnen, was aber zunehmend dazu führte, dass sie zusammen beim Kartenspiel saßen, was zwar kurzweilig, aber mitunter auch verlustreich war. So kam sie manchmal deprimierter nach Hause zurück als sie von dort fort gegangen war. Häufiger ging sie fortan in den Tempel und spendete den Mönchen Essen und Geld, doch sonst zog sie sich immer mehr zurück und traf sich auch mit ihren Freundinnen nur noch selten. Obwohl sie körperlich noch gut beweglich war und auch noch keine Alterszipperlein hatte, ging sie kaum mehr aus dem Haus. Ihr Moped hatte sie schon lange verkauft und zu Fuß war es ihr zu heiß. Sie wurde launisch und verschroben, maßregelte ihre Zugehfrau, die ihr das Haus sauber hielt und die Tiere fütterte, und beschimpfte am Telefon die Wasserwerke und die Stadtverwaltung in rüdem Ton aus nichtigen Anlässen. Mit 70 Jahren guckte sie nach vorne, und sie erschrak, denn was sie sah, sah nicht rosig aus. Sie sah den Tod auf sich zukommen und sie hatte Angst davor. Das war entsetzlich. Die Jahre vergingen, aber es gelang ihr nicht, ihre Angst zu überwinden.

Als der Tod sie überraschte, wollte sie gerade in ihrer Küche nach einem Messer greifen, um eine Zwiebel zu schälen, aber es gelang ihr nicht mehr. Sie stand vor dem Messer und sah es liegen, aber ihr rechter Arm und ihre Hand verweigerten den Greifbefehl. Plötzlich sah sie 5, nein 10, ach je, ein ganzes Messermeer vor ihr liegen, dann knickten ihr die Beine weg. Sie sackte zusammen und schlug mit dem Kopf, in dem ein kleines blutführendes Gefäß geplatzt war, auf die blanken Küchenfliesen. Es wurde dunkel um sie herum und sie empfand nichts als einen wohligen Frieden und gab sich ihm hin. Es war 8.25 Uhr - ihre liebste Schulstunde - und die Kinder standen wie jeden Tag in der nahen Schule vor der Thaifahne, als ihre Atmung aussetzte und ihr Geist sie abholen kam.

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